Öffentliche Zimmer im Freien

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Abstract

„Öffentliche Zimmer im Freien“

Raum ist die Urszene der Architektur. Ausgehend von dieser Perspektive ist Architektur nicht das, was Raum anfüllt, sondern das, was Raum erzeugt. (vgl. Baudrillard, 1999: 11) Vor allem das Denken über Stadt rückt den öffentlichen Raum ins Blickfeld und gibt Anlass sich Themen wie Pluralität, Dynamik, Diskontinuität und Diversität zu widmen.
In seinem aktuellen Buch „Die offene Stadt _ Eine Ethik des Bauens und Bewohnens“ beschreibt Richard Sennett die Notwendigkeit den gebauten und den gelebten Raum nicht als Gegensätze, sondern in Korrelation untereinander zu begreifen. So handelt die Planung der Stadt nicht von einzelnen Gebäuden, sondern vor allem von Wegen, Plätzen, Promenaden, Passagen, Durchgängen, Übergängen, Nischen, Höfen, Brücken und Gassen. Damit verwoben sind die Individuen, welche die Stadt bespielen, sich diese aneignen und ihre Lebendigkeit ausmachen.
Vielfalt, Mehrdeutigkeit und eine gewisse Vielstimmigkeit charakterisieren den öffentlichen Raum und veranlassen zu einem auf Zusammenhalt ausgerichteten Austausch. Genau das macht ihn auch zum politischen Raum, in dem er ein Raum des Ausverhandelns ist. Jeder Versuch dieser Vielstimmigkeit bzw. „Pluralität Herr zu werden, ist immer gleichbedeutend mit dem Versuch, die Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen.“ (Arendt, 1967: 279) Dies betont Hannah Arendt in ihrem Buch „Vita activa oder vom tätigen Leben“ wenn sie den politischen Raum als Raum der freien Handlung einfordert und „Öffentlichkeit als einen Ort begreift, an dem Menschen frei und gleich diskutieren und streiten können, weil sie dort von ihren partikularen privaten Lebensumständen losgelöst sind.“ (Sennett, 2018: 367) So generiert sich ein Bild des öffentlichen Raums das nicht einem einzigen unverrückbaren Bild entspricht, sondern als eine Vielzahl unterschiedlichster Art geschichteter Bilder zu verstehen ist.
Ein Plan der dieses Bild der Stadt, und sukzessive das des öffentlichen Raums kartiert, ist der Nolliplan von Rom, der 1748 von Giambattista Nolli angefertigt wurde. Dieser wird auch als „the first modern city-map“ bezeichnet. Dieser Plan fokussiert auf die Ränder und Übergänge zwischen gebauten und gelebten Raum. Sie gestalten sich wie durchlässige Membranen, welche die Gebäude in ihrer Materialität aufzulösen scheinen und dem öffentlichen Raum die Freiheit verleihen sich entwickeln zu können. Innen- und Außenraum berühren sich und gehen ineinander über. Es ist dies ein Plan des Dazwischens, ein Plan von Schwellen- und Übergangsräumen die den öffentlichen Raum charakterisieren. Diese Schwellenräume entziehen sich gewissermaßen einer vorgeschriebenen Ordnung und Kontrolle in dem sie eine Gleichzeitigkeit von Aktivitäten fördern. Ihre Nutzung ist nicht im Voraus festgelegt. Der Starrsinn des berühmten Plan Voisin von Le Corbusier, in der die Form der Stadt in seiner eigenständigen Entwicklung behindert wird, und die eine große Diskrepanz zwischen gelebten und gebauten Raum aufspannt, ist überholt. Richard Sennett spricht von einer koordinierenden Stadt im Sinne eines offenen Systems das flexibel operiert und bereit ist für das Zufällige und dem zwischenmenschlichen Austausch. Machtbeziehungen innerhalb dieses Systems sind eher interaktiven als direktiven Charakters. Dem gegenüber steht die vorschreibende smarte Stadt als geschlossenes System, in dem der Zusammenhang von Form und Funktion festgelegt ist. „...die Bürger nutzen sie gemäß dem Gesetz der verführerischen, aber verdummenden größtmöglichen Nutzerfreundlichkeit.“ (Sennett, 2018: 313) Freie Raumaneignung steht einer vorgeschriebenen Nutzung gegenüber. Für den öffentlichen Raum muss jedoch gelten, dass NutzerInnen selbst Entscheidungen treffen und aktiv werden können.
In diesem Zusammenhang von gebauter und gelebter Struktur stellt sich auch die Frage nach einer räumlichen Identität und wie sich diese formt. War der Begriff der Identität bislang mit der Idee einer gewissen Eigenart verbunden, so stellt sich in Bezug auf einen gesellschaftlichen Pluralismus Identität viel mehr als eine Summe des Unterschiedlichen und Andersartigen dar, der man selbst zugehörig ist und die einem einen gewissen Sinn für Ambivalenzen abverlangt. So ist der öffentliche Raum ein gemischter Ort, in dem nicht eine Welt die andere ausschließt, sondern in dem vielgestaltige Welten ineinander, nebeneinander und untereinander wirken. Dieser ist die Voraussetzung dafür, dass die Stadt als soziales und politisches System überleben kann. Wesentlich sind so etwas wie „öffentliche Zimmer im Freien“ an denen es auch erlaubt ist herumzulungern und auf der Straße zu sein. (Christopher Alexander in: Czech 1995: 372) Der öffentliche Raum ist Nährboden für eine städtische Kultur verstanden als Gemenge oder Mosaik von Subkulturen und einer Kultivierung der Vielfalt. „Stadtplanung bedeutet, gleichzeitig die Pluralität (auch der Wirklichkeit) zu denken und diesem Pluralitätsgedanken Wirksamkeit zu verleihen.“ (de Certeau, 1988: 183)
Franziska Hederer, Jänner 2019




Quellentexte:
* Arendt, Hannah | Vita activa oder vom tätigen Leben | Verlag Piper München, Berlin 1967
* Baudrillard, Jean | Architektur: Wahrheit oder Radikalität? | Literaturverlag Droschl, Graz – Wien 1999
* Benevolo, Leonardo | Die Geschichte der Stadt | Verlag Campus, Frankfurt a. M., New York 1983 / 1990
* Czech, Hermann (Hrsg.) | Eine Muster-Sprache; Städte* Gebäude* Konstruktion | Alexander Christopher, Ishikawa Sara, Silverstein Murray mit Jacobson M., F. King I., Angel S. | Verlag Löcker, Wien 1995
* De Certeau, Michel | Kunst des Handelns | Verlag Merve, Berlin 1988
* Flusser, Vilem | Ende der Geschichte, Ende der Stadt? | Wiener Vorlesungen am 13.März 1991 | Hrsg. Kulturabteilung der Stadt Wien; Redaktion Hubert Christian | Verlag Picus, Wien 1992
* Frank, Irmgard (Hrsg.) | Raum _atmosphärische Informationen; Architektur und Wahrnehmung | Institut für Raumgestaltung TU-Graz | Verlag Park Books, Zürich 2015
* Hederer, Franziska | An den oszillierenden Rändern der Architektur _ Werkzeuge zur Raumwahrnehmung | Habilitationsschrift TU-Graz 2015
* Hederer, Franziska | Im Inneren der Stadt _ Weiterbauen an Beispielen von Pentaplan Architekten in: Stadt weiterbauen: Zukunft Altstadt | Internationales Städteforum in Graz 2016 (S. 90 – 99)
* Sennett, Richard | Die offene Stadt; Eine Ethik des Bauens und Bewohnens | Verlag Hanser Berlin 2018
* Serres, Michel | Die fünf Sinne, Eine Philosophie der Gemenge und Gemische | Verlag Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1998
* Waldenfels, Bernhard | Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3 | Verlag Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1999
Original languageGerman
Pages40-42
Number of pages3
Volume40
No.121
Specialist publicationPoliticum
PublisherVerein für Politik und Zeitgeschichte in der Steiermark
Publication statusPublished - 1 Apr 2019

Fields of Expertise

  • Sustainable Systems

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